© Christian Kaufmann

Mario Venzago

«Ein Chefdirigent muss verstehen, was die Schweizer*innen meinen, wenn sie es nicht sagen»

INTERVIEW: THOMAS GARTMANN

Thomas Gartmann: Mario Venzago, als Sie vor 10 Jahren beim BSO begonnen haben, sind Sie sicher mit bestimmten Zielen angetreten.

Mario Venzago: Ich kam aus Amerika, wo ich über sieben Jahre in Indianapolis Musikdirektor gewesen war. Alle meine künstlerischen Pläne hatten sich gerade zerschlagen, weil das Orchester durch die Lehman-Brothers-Pleite nichts mehr davon realisieren konnte. Die amerikanischen Orchester bekommen keine staatlichen Subventionen, und bei Krisen und Katastrophen verlieren die Musiker*innen oft sogar ihre Stellen. Ich war gerne in den USA gewesen; der Orchesterstandard ist hoch, und die Probendisziplin eisern. Etwas von dem wollte ich in Bern realisieren. Also genau das, was auch David Zinman in Zürich so überragend leistete.

Bern präsentiert sich gern als zweisprachiger Kanton. Beim Orchester hört man wirklich dieses Nebeneinander der Kulturen, allein schon in den Probensprachen, die Sie ja auch sehr pflegen.

Die Zweisprachigkeit ist und war nie ein Problem. Die Vielsprachigkeit dagegen schon. Viele unserer jungen Musiker*innen können kein Deutsch, verstehen auch kein Französisch, und so behelfe ich mich mit einem Esperanto aus Englisch, Deutsch und anderem. Problematisch wird dieses babylonische Sprachgewirr, wenn es um Inhalte geht, die das technische Vokabular sprengen.

Ein grosses Anliegen ist Ihnen die klangliche Flexibilität. Wie hat das Orchester zu seinem eigenen Sound gefunden?

Zunächst galt es, sich vom Klang der Konkurrenzorchester abzusetzen. So richteten wir uns vorerst im „französischen“ Ideal ein mit durchsichtigem, klarem Blech, einem vibratoarmen Streichersound und scharf artikulierendem Holz. Das verband ich mit grossen Tempofreiheiten. Dass in den Jahren daraus ein veritables Markenzeichen entstand, erfüllt mich mit Freude.

Der vorher angesprochene Standort Bern als Brücke zwischen den Kulturen spiegelt sich auch im Repertoire. So kristallisierte sich neben den deutschen Romantikern mit den Franzosen eine zweite Programmsäule heraus und zwar nicht nur Debussy und Ravel, sondern auch Boieldieu, Charpentier, Dukas, Ibert, Schmitt oder der Doppelbürger Jarrell.

Zunächst waren diese Komponisten, die mir noch von meiner Zeit beim Orchestre de la Suisse Romande geläufig waren, eher als Nische und Alleinstellungsmerkmal zur Identifikation gedacht. Das Berner Orchester aber spielt diese Musik so ausserordentlich gut, so kontrolliert klangrauschend, dass ich heute meine, hier liegt die ganz grosse Begabung unseres Klangkörpers.

Wie kaum ein anderer Chefdirigent in den letzten Jahrzehnten haben Sie sich für zeitgenössische Musik eingesetzt, von Schweizer wie auch von internationalen Komponist*innen. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Gemischte. Auch in Bern habe ich in der Tat viel Neues gespielt. Mit ganz wenigen schmerzhaften Ausnahmen konnte ich hundertprozentig dahinterstehen. Boost von Dieter Ammann, limited approximations von Georg Friedrich Haas (für sechs Klaviere im Sechsteltonabstand), Aquateinte, das Oboenkonzert von Michael Jarrell, um nur drei zu nennen, haben mich „umgehauen“. Viele Schweizer Komponisten, nicht nur Huber, Holliger und Moser, sind richtige Giganten. Ganz abgesehen von den ehemaligen Berner Chefdirigenten Balmer, Kletzki und Brun. Leider ist die Schweiz weder stolz auf solch überragende Persönlichkeiten, noch wird deren Musik wirklich gefördert.

Als Chefdirigent sind Sie auch verantwortlich, dass der kulturelle Auftrag erfüllt wird, der sicher auch Neues und Unbequemes umfasst. Wie gehen Sie mit dieser Herausforderung um?

Neues und Unbequemes muss sein, sonst können wir unseren Forschungsauftrag nicht ausführen. Wir sind ja in gewisser Weise auch Wissenschaftler, zumindest gehörte die Musik zusammen mit der Arithmetik, Mathematik und Astronomie zum Bildungskanon des Quadriviums. Wissenschaftler, die nicht forschen, reproduzieren nur immer Gleiches und sind bald ohne Interesse und Resonanz. Die Schwierigkeit ist stets nur, das Neue zu vermitteln. Sei es kommentierend, sei es unter Zuhilfenahme aussermusikalischer Bilder oder Prozesse.

Sie interpretieren Ihre Rolle als Chefdirigent ja in einem umfassenden Sinne und unterscheiden sich von Chefs, die einfach nur zu den Arbeitsphasen anreisen.

Das ist das Beste an meinem Job in Bern. Ich bin noch einer der wenigen Chefdirigenten, die auch die künstlerische Leitung ihres Orchesters innehaben. Das bedingt zwar viel Managementarbeit, Sitzungen, Verhandlungen, Gespräche, auch Sponsorenessen und politisches Gutwettermachen. Aber diese intensive Präsenz gibt einem auch das Recht, „sein“ Orchester nach eigenem Willen zu leiten, die Visionen vorzulegen und Wege dahin vorzuschlagen. Nicht allen Musiker*innen gefällt das. Meine Entscheidungen jedoch waren stets transparent. Orchesterleitung funktioniert nun mal nicht demokratisch. Aber Transparenz im Sinne einer „Demokratur“ ist möglich. Deswegen auch muss die Vertragszeit eines Chefdirigenten mit so vielen Kompetenzen begrenzt sein. Schade, dass ich nun diese Grenze erreicht habe…

Ein Orchester ist ein sozialer Kosmos, besteht aus ausgeprägten Persönlichkeiten mit vielen pointierten Meinungen. Wie gelangt man da zu einheitlichen Interpretationen, die von allen überzeugt mitgetragen werden?

Eine Interpretation, vor allem eine radikale, wird niemals von allen überzeugt mitgetragen. Das wäre ein grössenwahnsinniger Anspruch. Aber alle müssen alles geben, dass diese Interpretation klar erkennbar dargestellt wird. Das ist das unfassbar Erstaunliche an guten Orchestermusiker*innen: Sie setzen jede Woche eine andere Lesart um, stets optimal und mit allem Können, auch wenn sie persönlich anderer Meinung sind. Was für Grösse braucht es, einer Idee zu dienen, die man selber nicht teilt! Das ist das Wunder Orchester. Und man kann sich nicht genug bedanken bei den Musiker*innen, dass sie all ihre Kraft in den Dienst stets wechselnder Ideen stellen. Stets das Beste gebend. Und sich zurücknehmend. Allerdings einigt uns eines: der Glaube an die Liebe zur Musik. Wir sind eben mehr als nur eine Interessengemeinschaft.

Was brachte das Interregnum im Kursaal und was bringt nun der neu-alte Saal?

Persönlich fand ich die Zeit im Kursaal als meine künstlerisch produktivste. Die von der Münchner Firma Müller generierte, mit künstlicher Intelligenz berechnete Akustik kam meinem Klangideal entgegen. Es war das wohl bestmögliche Ausweichquartier. Bis das neu renovierte Casino akustisch optimal funktioniert, wird es noch mancher Anstrengung bedürfen.

Sie sind einer der wenigen Dirigenten, die sehr häufig vor Ort anzutreffen sind, trotz all Ihrer internationalen Verpflichtungen. Sie sprechen auch oft mit dem Publikum, reagieren auf Hörerbriefe. Wie haben Sie sich Ihre Beziehung zum Publikum aufgebaut?

Als ich in Bern zum Chef gewählt wurde, verlegte ich meinen Wohnsitz nach Bern. Ich wollte hier greifbar und breit bekannt werden. Nicht nur durch den „roten Schal“. Meine künstlerische Handschrift sollte das Markenzeichen sein. Wie schon vorhin gesagt, muss ein Chefdirigent, so wie ich die Position und die Rolle sehe, in der Stadt und im Land verwurzelt sein. Er muss die politischen Abläufe kennen und verstehen, was die Schweizer*innen meinen, wenn sie es nicht sagen…

Wie stark mischen Sie sich heute noch in den politischen Diskurs ein?

Ich habe mich in letzter Zeit etwas aus der politischen und sozialen Verantwortung herausgenommen. Zum einen, weil ich Raum geben muss für meine Nachfolge und ganz andere Konstruktionen und Personen. Zum andern, weil ich seit dem Rücktritt meines hochgeschätzten Intendanten-Freundes Stephan Märki Vertrauen in Institutionen verloren habe. Dieser Fall hat Flurschäden hinterlassen. Auch deswegen ist es gut, wenn neue, unbelastete Menschen an die Spitze kommen.

Müsste sich das Orchester häufiger politisch zu Wort melden, gerade weil es hier in der Bundesstadt sich direkt an verschiedene Schlüsselpersonen wenden könnte?

Nein, in den politischen Diskurs soll ein Orchester nicht eingreifen. Es soll geradestehen und mit seiner Kunst in seiner Sprache für Brüderlichkeit und Menschenwürde werben.

Das Konzert Theater Bern hat ja eine komplizierte Struktur: Hat sie sich bewährt?

Die Struktur ist gar nicht so kompliziert. Ich habe mich darin wie ein Fisch bewegt. Dass man nach der Fusion das Orchester in seinen Privilegien nachträglich noch einmal beschneiden wollte, hat mein Verhältnis zum damaligen Stiftungsrat beschwert. Heute sind diese Bestrebungen vom Tisch. Das Orchester besitzt jetzt eine Art Verfassung, die ihm seinen Personalbestand, seinen internationalen Status und seine Aufgaben in Stadt und Land garantiert.

Wie innovationsfreudig und wie kulturfreundlich ist Bern? Viele reden das Ende des Sinfonieorchesters herbei. Wie sehen Sie die Zukunft von Orchester und Oper – generell und gerade hier in Bern?

Das Gerede vom Ende des Sinfoniekonzertes war in Bern Teil der gerade beschriebenen Politik, die nun friedlich ad acta gelegt ist. Weltweit boomt die Klassik. Wie weit Bern zur Welt gehört, wird sich weisen.

Welches sind Ihre schönsten Berner Erinnerungen – und was möchten Sie gerne rasch vergessen?

Für eine Rückschau ist es zu früh. Ich werde auch in meiner letzten Saison noch einmal alles geben. Zwar gilt man – sobald ein Rücktritt verkündet ist – als lame duck. Watscheln jedoch ist nichts für mich. Auch Enten können fliegen! Dass mir die BSO-Musiker*innen in ihrer ganzen Vielfalt ans Herz gewachsen sind, weiss jeder. Das kann man nicht vortäuschen. Selbst die mir am Anfang gräulich vorgekommenen vielen Sitzungen haben mir später Spass gemacht. Schade, dass wir wegen der Corona-Krise unser Schumann-Projekt mit der Dokumentation aller Sinfonien nicht mehr abschliessen konnten und dass sich mit der abgesagten Pelléas-et-Mélisande-Produktion im Theater der französische Repertoire-Kreis nun nicht vollkommen schliesst. Glücklich bin ich über den dazugekommenen Probenraum im Diaconis (sozusagen im Garten meiner Berner Wohnung): frustriert hat mich, dass wir nicht mehr Tourneen geschafft haben und so den Namen dieser schönsten Schweizer Stadt (und das sagt ein Zürcher!) nicht häufiger in die Welt tragen durften.

Was bedeutet der Titel «Ehrendirigent» für Sie?

Es ist das erste Mal in der Geschichte des Orchesters, dass dieser Ehrentitel verliehen wird und erfüllt mich mit grosser Freude und Dankbarkeit gegenüber Stiftungsrat und Orchester. Ich betrachte es als Aufforderung, die Verbundenheit mit den BSO-Musiker*innen und den Menschen in der Stadt weiterhin zu pflegen.

 

Woher nehmen Sie eigentlich all Ihre Energie? Grad auch nach Ihrer schweren Rückenoperation, als Sie verblüffend rasch zurückgekehrt sind?

Die Kraft kommt aus der Musik und den mir zugewandten Menschen in meinem engsten Kreis. Zudem erfahre ich motivierende Zustimmung und Unterstützung durch die vielen Berner Freunde. Vor allem aber will ich mit Dirigieren noch nicht aufhören. Ich habe noch so Vieles vor mir. Das treibt mich an. Mein Rücken ist wieder gut und sonst beisse ich halt manchmal auf die Zähne. Es war nicht immer leicht, gesundheitlich beschädigt vor dem Orchester zu stehen und sich nichts anmerken zu lassen. Nur als reisender Gast weltweit zu wirken, ist mir zu wenig. Ich will stilbildend mit klar erkennbarer Handschrift Nachhaltiges formen. Der Ort wird sich finden.

Und so halte ich es (etwas frei) mit Hermann Hesse:

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne…

Und jedem Abschied (!) wohnt ein Zauber inne.“

 

Thomas Gartmann studierte an der Universität Zürich Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte und promovierte zum Instrumentalwerk Luciano Berios. Er wirkte als Leiter Musik bei Pro Helvetia, NZZ-Rezensent, Lehrbeauftragter an verschiedenen Kunsthochschulen und Universitäten. Heute ist er Leiter der HKB-Forschung und von SNF-Projekten u.a. zu Beethoven-Interpretationen (»Vom Vortrag zur Interpretation« sowie «Geisterhände neu belebt») und zur Berner Neufassung von Schoecks Oper Das Schloss Dürande. Ausserdem arbeitete er auch im Projekt «Hochleistungsteams in Musik und Wirtschaft» mit dem Berner Symphonieorchester zusammen.

 

Wir überlassen Ihnen das Interview, das Thomas Gartmann mit Mario Venzago führte, zur freien Verwendung.